Der Schrecken des Banalen
Die erschütterndste Szene des Filmjahres spielt sich weder in einem düsteren Wald, noch in einem kalten Kellerverlies ab, sondern auf einer Landstrasse. Das Ereignis: kein Überfall von Axtmördern, kein Monster, das aus einem Gebüsch springt. Nein, ein schlichter, aber folgenschwerer Autounfall wirft das Leben der Familie Graham in Hereditary, dem Debütfilm von Ari Aster, aus der Bahn und wird zum Schlüsselmoment einer so nie gesehenen Konfrontation mit dem Übernatürlichen. Als die Teenagerin CHARLIE GRAHAM (MILLY SHAPIRO) bei einer Party einen allergischen Schock erleidet, gerät ihr von Drogen berauschter älterer Bruder PETER GRAHAM (ALEX WOLFF) in Panik, setzt sie auf die Rückbank seines Autos und rast los, um kurz darauf mit einem Strommast zu kollidieren. CHARLIE wird dabei auf brutale Weise verstümmelt und kommt ums Leben. Ein tragischer Fall von Fahrlässigkeit oder doch ein Knotenpunkt im Netzt einer bizarren, okkulten Verschwörung?
In Hereditary muss der Zuschauer selbst nach Antworten suchen, sie dem Film regelrecht abringen, denn es handelt sich um ein komplexes Werk. Es geht um spezifische Eigenheiten, Details, konnotative Bedeutung. Das zeigt sich auch am Titel selbst, der sich nur mit Mühe ins Deutsche übersetzen lässt. Am besten trifft es wohl das Adjektiv ‘vererblich’, welches nicht gerade spannungsvoll klingt (und wohl deshalb hat man für die deutsche Veröffentlichung den Zweittitel Das Vermächtnis gewählt). In der Erbforschung spricht man von Heredität, also der Weitergabe von Eigenschaften in der Abfolge der Generationen. Im allgemeinen Sprachgebrauch aber verweist das ‚Vererbliche’ meist auf Krankheiten, auf eine Gesamtheit von Mängeln. Es ist ein zutiefst pathologischer Begriff.
Die Auseinandersetzung mit solchem Leid erfolgt im Film in der Regel in Dramen. Doch Leiden, Verzweiflung, Trauer – das ist Horror. Regisseur Aster gibt diesen Empfindungen mit Hereditary einen Schauplatz des Übernatürlichen und vermengt das Banale plausibler Schicksalsschläge mit den ephemeren Qualitäten eines Spukfilms. Dieser scheinbare Widerspruch wird mit faszinierenden ästhetischen und narrativen Effekten entlohnt. Schon andere Regisseure haben sich diese Effekte in Filmen der letzten Jahre zu Nutzen gemacht. In It follows von David Robert Mitchell nehmen Geschlechtskrankheiten als Modi von Schamerzeugung und Ausgrenzung physische Gestalt an und verfolgen die Protagonistin als phantomhaftes Wesen. In A Ghost Story von David Lowery werden Trauerbewältigung und stille Depression, ausgelöst durch den plötzlichen Tod eines Partners, zu einer metaphysisch-philosophischen Odyssee eines putzigen Bettlakengespenstes durch die Zeit verwoben.
Dieser neue Wagemut im Horror Genre, für den Hereditary wie kein zweiter Film steht, kommt nicht von Ungefähr. Der US-Verleiher A24 (Hereditary, A Ghost Story) ist im Begriff, eine neue Ära des Horrorfilms einzuläuten, weg von den überbordenden Schockwerten des Folterkinos (Saw) und der Monotonie des Found Footage (Paranormal Activity), hin zu einem Horrorkino des subtilen, politisch Brisanten und thematisch Vielfältigen. Es bildet einen starken Gegenpol zu den filmischen Fließbandprodukten des ebenfalls auf Horror spezialisierten Studios Blumhouse, bei denen Marketing- und Platzierungskalkül meist vor sämtlichem Inhaltlichen stehen. Noch ist ungewiss ob dieser Wandel substanziell sein wird oder sich in einem verkopften, ästhetisch eintönigen Subgenre verfestigt. So viel ist jedoch sicher: Horrorfilme sind endlich wieder spannend. Hereditary bildet den vorzeitigen Höhepunkt dieser ansteigenden Spannungskurve. Fast zwei Stunden nimmt sich der Film Zeit, um all seine Figuren zu platzieren, Mysterien zu flechten und Hinweise zu streuen, bevor er in ein bombastisches Finale mündet. Das von rotem Glühen erfüllte Baumhaus der Familie Graham hat gute Chancen, ähnlich ikonischen Status zu erlangen wie das Overlook Hotel in The Shining oder Norman Bates’ Haus in Psycho.
Doch ohne die penible Vorarbeit und den allgegenwärtigen Subtext wäre der letzte Akt des Films wohl kaum so überzeugend geraten. Der graduelle geistige Verfall von Mutter Annie Graham, die zunächst an einer Selbsthilfegruppe für Trauerbewältigung teilnimmt, in die Welt der Esoterik abdriftet und schließlich im eigenen Heim eine Seance abhält, ist so fließend, dass eine Brücke zwischen dem Lebensweltlichen und den Klischees des Horror Genres geschlagen wird. Hauptdarstellerin TONI COLETTE beeindruckt dabei mit einer intensiven Performance. Nachdem sie vom schicksalhaften Tod der Tochter erfährt, windet sich Annie Graham (COLLETTE) schreiend am Boden. Die Trauer ist für sie so überwältigend, so unmittelbar, dass sie ihren Körper in Zuckungen und Verrenkungen versetzt. Sie steht am entgegen gesetzten Ende des emotionalen Spektrums an dem sich Hauptdarstellerin ROONEY MARA mit dem minutenlangen Verspeisen eines ganzen Kuchens, gefolgt von Brechreiz, in A Ghost Story verortet. Beides kann man etwas theatralisch finden, sogar nervtötend, keinesfalls jedoch – und das ist entscheidend – uninspiriert. Ob nun panisch oder apathisch, diese Darstellungen übertragen ein Gefühl für die Härte der Situation an das Publikum und sei es nur in Form einer vagen, peinlichen Berührtheit. In Zeiten des understated character actings hilft solch eher unkonventionelles Vorgehen, die Ambivalenzen und Spannungen des Films aufrechtzuerhalten. Ergänzt wird es durch visuelle und auditive Ankerpunkte. Etwa die von Mutter ANNIE entworfenen Dioramen, die bereits mit der ersten Einstellung und einer faszinierenden Kamerafahrt durch das Heim der Familie Graham bis hinein in eines der Kunstobjekte etabliert werden. Die Dioramen sind detaillierte Abbildungen der Realität in kleinem Maßstab, sie dokumentieren und rekapitulieren das Geschehen des Films. ANNIE stellt den brutalen Tod ihrer Tochter als Mittel der Trauerbewältigung in solch einem Diorama nach. Ebenso präsent und selbstreflexiv ist der nervöse Tick der Tochter CHARLIE, ein Zungenschnalzen, welches das sound-design dominiert und darin die Funktion eines Leitmotivs einnimmt. Das Schock-Moment der expliziten Todes-Szene wird durch diese Ankerpunkte immer wieder abgerufen und das fast groteske Bild zugleich normalisiert. Die Belastung der filmischen Glaubhaftigkeit und die Partizipation des Publikums werden so weit als möglich ausgereizt – Regisseur Aster operiert auf dem schmalen Grad des Kontroversen, um die Wahrnehmung von Zuschauer und Figur zu hinterfragen.
In Horrorfilmen spielen die Ungläubigkeit und das Entsetzen der Figuren eine entscheidende Rolle, denn sie verkörpern auch Ungläubigkeit und Entsetzen der Zuschauer. Dieser Zusammenhang wird in nur wenigen Filmen konsequent behandelt. Die Opfer von Poltergeistern und Flüchen fügen sich oft allzu schnell in ein verzerrtes Weltbild des Paranormalen (für eine spirituell-existenzielle Krise bleibt in einem 90 Minuten Film, in dem sich ordentlich gegruselt und schließlich der Spuk vertrieben werden muss, selten Zeit) – dadurch verlieren sie ihre Plastizität und Glaubwürdigkeit. Nicht so in Hereditary: Die Figuren führen einen langen, verbissenen Verteidigungskampf gegen das Irrationale. Als Repräsentation eines aufgeklärten Menschen stemmt sich Familienvater STEVE GRAHAM (GABRIEL BYRNE)bis zuletzt gegen den Spuk und bezahlt für diese konsequente Verweigerung mit seinem Leben. Angst, Schmerz und Trauer, so die Implikation, kann man mit purem Rationalismus nicht überwinden. Ebenso wenig gelingt dies Mutter ANNIE, die sich völlig ihren Emotionen hingibt und von ihnen vereinnahmt wird, ja sogar gegen Ende des Films auf ein animalisches Gebaren hin reduziert wird.
Für die Figuren von Hereditary gibt es kein Entkommen vor dem Übernatürlichen, keinen reinigenden Exorzismus und keine mystische Zuflucht. Der Horror ist unaufhaltsam, ebenso unaufhaltsam wie echter Horror, der Menschen im wahren Leben widerfährt. Das ist unangenehm schonungslos, aber von bestechender Klarheit.