Fahrenheit 11/9 (2018)

Gift im Wasser

Laut Überlieferung soll der antike Philosoph Sokrates durch die Regierung Athens zum Tode verurteilt worden sein. Die Machthaber – so eine mögliche Deutart – sahen sich durch seinen Einfluss, vor allem auf die junge Bevölkerungsschicht, politisch bedroht. Die Akzeptanz seiner Hinrichtung durch widerstandsloses Trinken eines Giftbechers wird Sokrates oft als ultimativer Ausdruck der Prinzipientreue ausgelegt.
Mehr als 2400 Jahre später hält ein ehemaliger Präsident der USA eine Rede in Flint, einer Stadt im US-Bundesstaat Michigan. Auch dieser Mann, Barack Obama, war eine Inspiration und Hoffnungsträger für viele Menschen. Die Pressekonferenz dient einer Demonstration: Obama trinkt einen Schluck Wasser aus einem unscheinbaren Glas. Doch die Aufnahmen verraten: Er nippt nur verzagt und lässt das Glas dann schnell unter dem Podium verschwinden. Die Sequenz ist in Fahrenheit 11/9 zu sehen, dem neuen Werk des berühmt-berüchtigten Dokumentarfilmers Michael Moore. In zwei Stunden und acht Minuten verteilt er einen Rundumschlag gegen die Akteure der US-amerikanischen Politik, der in Sachen Kompromisslosigkeit seinen früheren Filmen in nichts nachsteht. Doch wie steht es mit Moores Trefferquote? Und gibt es Kollateralschäden?

Wie in allen Moore-Dokumentationsfilmen sind seine skurrilen öffentlichen Aktionen, angesiedelt zwischen Performancekunst und Protestaktion, sowohl Markenzeichen als auch Höhepunkt. In Sicko transportierte er kranke Amerikaner nach Kuba, wo ihnen medizinische Hilfe zuteil wurde; in Fahrenheit 9/11 beschallte er Senatoren mit einem Megafon, um ihnen den Inhalt einer Gesetzesvorlage mitzuteilen – und in seinem neuen Film unternimmt Moore den Versuch, den seiner Ansicht nach kriminellen Gouverneur des Staates Michigan, Rick Snyder, zu verhaften. Mit Handschellen bewaffnet erklimmt Moore die Stufen des Michigan State Capitol in Lansing. Der ‘citizen’s arrest’, also die Verhaftung von Verdächtigen durch einfache Bürger, ist eine Praxis, die in den USA tatsächlich existiert, seit den Zeiten des Wilden Westens aber nur noch selten zum Einsatz kommt. Moore wirkt dennoch entschlossen, schließlich geht es um nichts Geringeres, als einen Volksmörder dingfest zu machen. Volksmord – dieses krasse Prädikat verleiht Moore der Flint Wasserkrise; eine humanitäre Katastrophe, bei der ein überproportionaler Bevölkerungsanteil von Afroamerikanern über Monate und Jahre mit bleikontaminiertem Wasser versorgt wurde. Die politischen Eliten Michigans, angeführt von Gouverneur Snyder, hätten die Vergiftung tausender Menschen billigend in Kauf genommen und später systematisch vertuscht, so die Anschuldigung. Die erschütternde Geschichte Flints ist das Kernstück des Films. Sie liefert die so ergiebigen Interviewsituationen, welche Moore seit jeher gekonnt nutz, um zu kommentieren ohne selbst zu sprechen. Sie schlägt auch die Brücke zu Trumps Präsidentschaft, denn das rücksichtslose Vorgehen des Gouverneurs habe die Blaupause für Trumps Regierungsstil geliefert. Trump bewundere die Autokraten der Welt, die Vladimir Putins, Kim Jong-uns und Rodrigo Dutertes – doch erst Rick Snyder, so die Implikation, habe ihn ‘inspiriert’, deren Praktiken auch in der heimischen Politik anzuwenden.

Moores größte Stärke ist es, dort Verknüpfungen herzustellen, wo zuvor kein Zusammenhang erkennbar war. Man mag das Investigativjournalismus nennen oder auch Ausdruck einer Affinität für das Verschwörerische. Neutralität, so viel ist sicher, kann Moore nicht attestiert werden. Doch gerade aus diesen Ambivalenzen schöpfen seine Filme ihren so unterhaltsamen, zynischen Humor.
In seinem erfolgreichsten Film, Fahrenheit 9/11, stellte Moore den damaligen US-Präsidenten George W. Bush als planlosen Trottel dar. Diesmal geht Moore deutlich vorsichtiger vor und hebt sich mit dieser kleinen Kehrtwende gekonnt vom mainstream ab. In den filmischen Darstellungen Trumps (zuletzt Netflix mit Trump: An American Dream) entsteht oft ein Widerspruch zwischen dem Bild des perfiden, gewieften Machtmenschen und dem Bild der tollpatschigen, ungebildeten Witzfigur. Moore vermeidet diesen Widerspruch geschickt durch einen Rückblick auf Trumps Kandidatur und deren Zweck. Keine von langer Hand geplante Strategie, aber auch kein beliebiger Marketingstunt. Vielmehr ist Trumps Wahlkampf ein napoleonischer Eroberungsfeldzug, die Republikanische Partei seine erste und wohl wichtigste Kriegsbeute.

Moores Argumentationskette reicht von Washington nach Michigan, hangelt sich von Bundesstaat zu Bundesstaat, macht im letzten Drittel des Films schließlich einen Abstecher nach Europa und wird dort einer ernsten Zerreißprobe ausgesetzt.

Vergleiche mit den Nationalsozialisten und ihren Verbrechen, galten in der politischen Streitkultur stets als ein ultima ratio. Der US-Wahlkampf 2016 und die darauffolgende Legislatur des Kabinetts Trump, haben zu einem Bruch dieser Konvention geführt. Die linken Kräfte in den USA, egal ob Parteidemokraten, Intellektuelle, Journalisten oder Studenten, machen zunehmend von solchen Vergleichen Gebrauch – oft unreflektiert. Die letzten Minuten seiner Dokumentation widmet Moore einer Affirmation dieser Entwicklung. Filmmaterial einer Rede Hitlers wird mit Tonaufnahmen einer Trump Rede unterlegt. Begleitet von Expertenkommentaren stellt Moore den Untergang der Weimarer Republik den aktuellen Umbrüchen im politischen System der USA gegenüber und präsentiert eine vermeintliche Deckungsgleichheit. Das wirkt völlig hanebüchen, aber liefert dem deutschen Publikum eine neue Erkenntnis über Moores Vorgehen. Denn sein besonderer Stil der politischen Konfrontation und seine Bereitschaft, sich Ungereimtheiten zu Nutze zu machen anstatt sie aufzulösen, sind es, die ihn von anderen Dokumentarfilmern abheben. Die Brisanz dieses Stiles war für deutsche Zuschauer zwar stets auf einer intellektuellen, jedoch selten einer emotionalen Ebene verständlich. Die Aufarbeitung ethnischer Konflikte zieht sich wie ein roter Faden durch Moores Filme. Damit traf er immer wieder einen Nerv der US- amerikanischen Gesellschaft und erzeugte Resonanzen, die für ein europäisches Publikum eher als Nachhall zu spüren waren. In Fahrenheit 11/9 entsteht für deutsche Zuschauer nun erstmals dieser unangenehme Widerspruch zwischen Moores entlarvender Präzision und seiner Rücksichtslosigkeit, der ihn für Amerikaner stets so kontrovers gemacht hat. Man kann Moores politische Momentaufnahme als Faszinosum oder auch als Tortur wahrnehmen. Zumindest eines hat der Rabauke des Dokumentarfilms also getroffen: den Zeitgeist.